Update Vergabe 02.07.2025

EuGH zur Auslegung von unklaren Ausschreibungsunterlagen

In einem Anlassfall zur Auslegung eines öffentlich ausgeschriebenen Bauvertrags stärkt der EuGH die vergaberechtlichen Bieterrechte. Konkret ging es um die Dauer der Garantiefrist. Hierzu waren die Regelungen im Bauvertrag unklar. Das Urteil setzt neue Maßstäbe für die Auslegung von Ausschreibungsunterlagen – auch für Österreich.
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Rechtlicher Kontext

Bei Vergabeverfahren müssen die Bedingungen für die Angebotserstellung und Vertragsausführung für alle Bieter:innen gleichermaßen klar und vorhersehbar sein. Die Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz verpflichten öffentliche Auftraggeber:innen daher, alle relevanten Bestimmungen bereits in den Ausschreibungsunterlagen offenzulegen. Maßgeblich ist stets, ob durchschnittlich fachkundige Bieter:innen bei Anwendung der üblichen Sorgfalt deren genaue Bedeutung erkennen und sie in gleicher Weise verstehen können.

Ausgangsfall

Eine polnische Auftraggeberin vergab einen öffentlichen Bauauftrag zur Modernisierung einer Kläranlage. Im Vertrag wurde eine Garantie mit einer dreijährigen Frist vorgesehen. Nach Ablauf dieser Frist traten erneut Mängel auf. Die Auftraggeberin argumentierte, die Garantiefrist sei verlängert worden, weil Teile der Anlage innerhalb der ursprünglichen Garantiezeit vom Auftragnehmer ausgetauscht worden waren. Dabei berief sie sich auf eine analoge Anwendung der kaufrechtlichen Garantiebestimmungen im polnischen Bürgerlichen Gesetzbuch.

Das mit dem Streit befasste nationale Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob eine solche Auslegung unionsrechtskonform sei.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH verwies zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung (ua EuGH 04.04.2019, C-699/17), wonach alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens klar, genau und eindeutig in der Bekanntmachung oder den Ausschreibungsunterlagen formuliert sein müssen. So soll gewährleistet werden, dass (1) durchschnittlich fachkundige Bieter:innen bei Anwendung der üblichen Sorgfalt deren genaue Bedeutung erkennen und sie in gleicher Weise verstehen können und (2) öffentliche Auftraggeber:innen die Angebote anhand dieser Vorgaben tatsächlich überprüfen können. Bieter:innen müssen bereits in der Ausschreibungsphase erkennen können, welche Verpflichtungen sie im Rahmen der Vertragsausführung treffen können – etwa, welche Ereignisse eine Verlängerung der Garantiefrist auslösen könnten.

Der Gerichtshof betont, dass insbesondere bei Bauaufträgen mit komplexen technischen Komponenten die Garantiebedingungen wesentlichen Einfluss auf die Preisgestaltung haben können. Wenn sich Verlängerungen der Garantiefrist lediglich aus einer unsicheren Auslegung nationalen Rechts ergeben, ist dies für ausländische Bieter:innen „besonders“ benachteiligend. „Die Kenntnis dieser Bieter vom nationalen Recht und seiner Auslegung sowie von der Praxis der nationalen Behörden kann nämlich nicht mit der der nationalen Bieter verglichen werden.

Die nachträgliche Auslegung eines Bauvertrags durch analoge Anwendung nationaler Rechtsvorschriften, die weder im Vertrag noch in den Ausschreibungsunterlagen ausdrücklich genannt sind, verstößt nach Ansicht des Gerichtshofs gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz. Zwar kann ein Verweis auf nationale Rechtsvorschriften in Ausschreibungsunterlagen grundsätzlich ausreichend sein – vorausgesetzt, deren Anwendbarkeit ist für durchschnittlich fachkundige Bieter:innen bei Anwendung der üblichen Sorgfalt hinreichend klar und vorhersehbar. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn lediglich eine Generalklausel wie „es gilt das nationale Recht“ verwendet wird und sich die maßgebliche Norm nicht eindeutig auf den konkreten Vertragstyp (Bauvertrag) bezieht und ihre Anwendung in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist.

Fazit

Auch für Österreich ist mit der Entscheidung klargestellt, dass unklare Regelungen in Ausschreibungsunterlagen nicht zulasten von Bieter:innen ausgelegt werden dürfen – weder im Vergabeverfahren noch in der späteren Vertragsausführung. Das entspricht auch der innerstaatlichen Praxis: Bei der Auslegung von Ausschreibungsunterlagen sind zunächst die allgemeinen zivilrechtlichen Bestimmungen des ABGB (§§ 914 ff ABGB) heranzuziehen – mit dem Unterschied, dass im Vergabeverfahren nicht der Parteiwille, sondern der objektive Erklärungswert im Vordergrund steht. Der vermutete Zweck tritt in den Hintergrund, weil die Bedingungen nicht verhandelt, sondern einseitig vorgegeben werden. Bleiben nach objektiver Auslegung Unklarheiten bestehen, gehen die Unklarheiten entsprechend § 915 ABGB zulasten der Auftraggeber:innen. Dies deckt sich mit den unionsrechtlichen Vorgaben zu Gleichbehandlung und Transparenz, wie sie der EuGH nun nochmals ausdrücklich hervorgehoben hat.

Die Entscheidung zeigt einmal mehr, wie wichtig klare und nachvollziehbare Festlegungen in den Ausschreibungsunterlagen sind. Häufig wird pauschal auf nationale Vorschriften verwiesen. Ein solcher Verweis reicht nach Ansicht des EuGH allerdings nicht aus, wenn sich daraus keine klaren und vorhersehbaren Verpflichtungen ergeben. Auftraggeber:innen sollten daher bei sensiblen (vertraglichen) Regelungspunkten darauf achten, konkrete und eindeutige Festlegungen zu treffen, anstatt sich allein auf die spätere Auslegung nationalen Rechts zu verlassen. Das schafft Transparenz und beugt potenziellen Konflikten im Nachhinein vor.

Karlheinz Moick / Bernhard Schulz

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