EuGH: Materialvorgaben auf dem Prüfstand
Auftraggeber:innen haben technische Spezifikationen in der Leistungsbeschreibung so festzulegen, dass der Wettbewerb nicht in einer ungerechtfertigten Art und Weise beschränkt wird. Bestimmte Materialen dürfen daher nur in Ausnahmefällen vorgegeben werden. Der EuGH klärt idZ eine bis dato strittige Auslegungsfrage.- EuGH
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Rechtlicher Kontext
Gemäß Art 42 Abs 2 RL 2014/24/EU haben öffentliche Auftraggeber:innen technische Spezifikationen in der Leistungsbeschreibung so zu formulieren, dass der Wettbewerb nicht in einer ungerechtfertigten Art und Weise beschränkt wird. Art 42 Abs 3 RL 2014/24/EU (§ 106 BVergG 2018) gibt – unbeschadet nationaler Vorschriften – im Detail vor, wie technische Spezifikationen zu formulieren sind. Dabei sind sämtliche Spezifikationen – mit Ausnahme reiner Leistungs- oder Funktionsanforderungen – mit dem Zusatz „oder gleichwertig“ zu versehen.
Eine Einschränkung auf eine bestimmte Herstellung, Materialherkunft, Produktionsweise etc kann jedoch dann vorgenommen werden, wenn dies (i) durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist, oder wenn (ii) der Auftragsgegenstand nicht hinreichend genau und allgemein beschrieben werden kann (Abs 4). Ob im ersten Fall (Auftragsgegenstand rechtfertigt Einschränkung) die Wortfolge „oder gleichwertig“ angefügt werden muss, war nach Lehre und Rechtsprechung bis dato strittig.
Instanz
Ein belgischer öffentlicher Auftraggeber gab bei der Ausschreibung von Abwasserarbeiten die Verwendung von Rohren aus Steinzeug und Beton vor. Ein Hersteller von Kunststoffrohren erachtete sich dadurch diskriminiert und focht die Ausschreibungsunterlagen an: Der öffentliche AG hätte auch gleichwertige Materialien zulassen müssen. Das zuständige belgische Gericht befasste den EuGH mit mehreren Vorabentscheidungsfragen.
Sachverhalt
Nach dem EuGH sind die in Art 42 Abs 3 RL 2014/24/EU genannten Methoden der Formulierung technischer Spezifikationen abschließend. Materialvorgaben gelten dabei nicht als zulässige Leistungs- oder Funktionsanforderungen gemäß Art 42 Abs 3 RL 2014/24/EU. Die Spezifikationen sollen nämlich die Abgabe von Angeboten ermöglichen, „die u. a. die Diversität der auf dem Markt vorhandenen technischen Lösungen widerspiegeln.“ Damit soll jedem Wirtschaftsteilnehmer eine Angebotslegung möglich sein, „dessen Waren den vom öffentlichen Auftraggeber gestellten Leistungs- und Funktionsanforderungen entsprechen, u. a. unabhängig vom Verfahren zur Herstellung seiner Waren und dem Material, aus dem sie bestehen.“
Die Beschränkung auf ein bestimmtes Material ist nur möglich, wenn dies (i) durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist oder (ii) der Auftragsgegenstand nicht nach Leistungs- und Funktionsanforderungen beschrieben werden kann. Eine Rechtfertigung durch den Auftragsgegenstand (i) ist eng auszulegen und nur in Situationen möglich, in denen keine technisch andere Lösung in Frage kommt. Dies ist der Fall, wenn sich die Verwendung einer Ware eines bestimmten Typs/Patents oder einer bestimmten Herkunft/Marke zwangsläufig aus dem Auftragsgegenstand ergibt. In einem solchen Fall darf der Auftraggeber das Material vorgeben, ohne auch „gleichwertige“ Alternativen zulassen zu müssen. Der EuGH stellte mit dieser Entscheidung also klar, dass in diesem Fall der Zusatz „oder gleichwertig“ entfallen kann.
Kann eine Anforderung nicht hinreichend genau und allgemein iSd Abs 3 umschrieben werden (Abs 4 2. Fall) ist eine Beschränkung nur dann erlaubt, wenn der Zusatz „oder gleichwertig“ angeführt wird.
Da der Auftragsgegenstand gegenständlich keine Rechtfertigung lieferte, und der öffentliche Auftraggeber den Zusatz „oder gleichwertig“ nicht anführte, verstieß er gegen diese vergaberechtliche Vorgabe.
Entscheidungsinhalt
Öffentliche Auftraggeber:innen müssen technische Spezifikationen so formulieren, dass sie den Wettbewerb nicht unangemessen einschränken. Die Festlegung bestimmter Materialien ohne Zulassung gleichwertiger Alternativen ist nur dann zulässig, wenn der Auftragsgegenstand dies objektiv erfordert (weil es technisch keine andere Möglichkeit gibt). Andernfalls ist bei Materialvorgaben der Zusatz „oder gleichwertig“ zwingend anzugeben. Der EuGH schafft damit Klarheit in einer bis dato in Lehre und Rechtsprechung strittigen Auslegungsfrage.
Sebastian Feuchtmüller / Philipp Kummer